Das Neuroverse

Warum kann man mit Lego Programmieren lernen? Hier findest du Artikel rund um unsere Arbeit und das Leben, Theorie und Anekdoten – kurz: Vielfalt, wie sie nur im neurodivergenten Spektrum vorkommt.

Back to Reality: Was Masking mit uns macht

Authentizität ist ein Buzz-Word unserer Zeit. Echt sein – das ist scheinbar so gefragt wie selten zuvor. In Wirklichkeit tun wir uns oft schwer, wenn das „Echte“ nicht unseren Normen und Erwartungen entspricht. Wer nicht tickt wie die meisten, tendiert deshalb dazu, sich zu verstellen und anzupassen. Masking ist der Begriff dafür, wenn neurodivergente Personen ihr „anders sein“ hinter neurotypischen Verhaltensweisen verstecken. Auch, wenn dieses Vorgehen helfen kann, besser gesellschaftlichen Anschluss zu finden: Es ist ein schmaler Grat zwischen hilfreicher Strategie und gefährlicher Selbstverleugnung.

Masking: Was ist das?

Masking beschreibt das Managen oder Verbergen von authentischem Verhalten oder Persönlichkeitsmerkmalen. Viele neurodivergente Menschen, allen voran Menschen mit Autismus oder ADHS, machen davon in ihrem Alltag Gebrauch – bewusst oder unbewusst. Sie versuchen, sich bestmöglich an gesellschaftliche Normen und Erwartungen anzupassen, um in sozialen Situationen “normal” zu wirken. Masking ist nicht auf neurodivergente Menschen beschränkt. Es ist allgemein eine Strategie, um gesellschaftliche Akzeptanz zu erlangen und Stigmatisierung oder Diskriminierung zu vermeiden und wird auch von neurotypischen Personen eingesetzt. Das Ausmaß und die Auswirkungen von Masking unterscheiden sich allerdings zwischen den Neurotypen: Neurodivergente Personen unterdrücken zum Beispiel Stimming (= selbst stimulierendes Verhalten, wie hin und her wippen) oder Reaktionen auf sensorische Reize, was mehr geistige Anstrengung erfordert als das Nachahmen von Kommunikationsverhalten.

Wer bin ich und wenn ja, wieviele?

Wir sind mehr als das, was wir in unterschiedlichen sozialen Kontexten von uns Preis geben. Nur in einem sicheren Umfeld eröffnen wir anderen Menschen den vollen Blick auf unsere Persönlichkeit. Je nach Situation und Umfeld schlüpfen wir ständig in andere Rollen, passen unser Verhalten an und zeigen unterschiedliche Facetten von uns. Manchmal ist es besonders deutlich, dass wir eine bestimmte Rolle spielen. Etwa wenn Valentin Gambino zu „Mademoiselle Giselle“ wird und als Dragqueen die Bühne einnimmt. Dann kommt sein zweites Ich zum Vorschein, das eine frechere, schlagfertigere, mutigere Seite zeigt: „Giselle denkt weniger nach als Valentin, sie sagt direkt heraus, was ihr in den Sinn kommt“, erzählt der Künstler im aktuellen Amazing 15-Podcast. Giselle inspiriert ihn dazu, auch als Valentin direkter zu sein und weniger zu „zerdenken“, erzählt er Anna Marton im Gespräch über Masking. 

Masking verändert die Realität

Denn genau dieses Überlegen, ob eine Aussage oder Verhaltensweise in einer gewissen Situation passend oder angebracht ist, passiert beim Masking. „Du zeigst etwas, was du glaubst, dass für dich und die anderen in einer Situation besser funktioniert. Aber das heißt nicht, dass dieses Verhalten wirklich besser funktioniert“, beschreibt Anna Marton das Problem an der Sache. Denn so entwickelt sich in der Folge eine andere Realität: Wenn wir etwas tun, weil wir dachten, dass das, was wir „echt“ sind, in dem Moment nicht erwünscht ist, erzeugt das eine Reaktion, die ganz anders ist als die, die auf unser authentisches Verhalten entstanden wäre. Masking verändert also, wie sich Situationen entwickeln und welche Rückmeldungen man bekommt. Es ist wichtig, dass man sich dessen bewusst ist. Denn zu erreichen, was wir ursprünglich wollten oder was unser inneres Bedürfnis ist, wird immer schwieriger, je länger wir es unserem Gegenüber „verheimlichen“. 

Lost energy: Masking kostet Kraft

Wer die ganze Zeit darüber nachdenkt, was gerade angebracht ist und was nicht, verbraucht damit unglaublich viel Kraft und kognitive Leistung. Diese Kraft fehlt dann dafür, die eigenen Ziele zu verfolgen, produktiv zu sein, etwas umzusetzen. Außerdem bleiben die eigentlichen Potenziale damit oft verborgen, weil sie sich unter der selbst auferlegten Tarnung nicht entfalten können. 

Besonders für Menschen im Autismus-Spektrum ist Masking eine ungeheure Anstrengung: Denn sie müssen sich das „normale“ oder erwünschte Verhalten mühsam aneignen. Sie kopieren bewusst Verhaltensweisen, Gesichtsausdrücke und Stimmlage neurotypischer Menschen. Das erfordert eine erhebliche mentale und emotionale Anstrengung. Vor allem deshalb, weil es sich über viele Lebensbereiche und Verhaltensweisen erstreckt. „Bei neurodivergenten Menschen gibt es mehr, das anders ist oder das missverstanden werden könnte. Mehr, wo man Angst hat, dafür ausgegrenzt zu werden“, erzählt Lisa Pointner in einer neuen Podcast-Folge. Die Autistin ist Head of Business Coaching & Consulting bei Amazing 15 und forschte zum Thema Masking & Autismus.

Zwischen Schutz und Sabotage: Die Maske im Alltag

Masking ist anstrengend, aber nicht grundsätzlich schlecht. Es ist ein Werkzeug, sich zu integrieren und Wertschätzung zu erfahren. Es ist ein Weg zu beruflicher Integration und Erfolg. Es ist eine Strategie, um im Alltag nicht unter Diskriminierung zu leiden. Kurz gesagt: Unter dem Schutz der Maske lassen sich manche Türen leichter öffnen. Doch all das gilt nur dann, wenn man sich seines Maskings bewusst ist, es als Instrument punktuell einsetzt. Wer sich dauerhaft maskiert, riskiert, sich selbst zu verlieren.

Situationen, in denen Masking hilfreich sein kann

  1. Erster Eindruck: In neuen sozialen oder beruflichen Situationen kann Masking helfen, einen positiven ersten Eindruck zu hinterlassen, bevor tiefergehende Beziehungen aufgebaut werden.
  2. Konfliktvermeidung: In angespannten Situationen kann Masking dazu beitragen, Konflikte zu vermeiden oder zu entschärfen, indem man sich an die Erwartungen und Normen der Umgebung anpasst.
  3. Sicherheit: In Umfeldern, in denen neurodivergente Merkmale stigmatisiert werden könnten, kann Masking eine Schutzstrategie sein, um sicher und unbeschadet durch den Tag zu kommen.


Gefahren von Masking

  1. Emotionale Erschöpfung: Masking erfordert kontinuierliche Aufmerksamkeit und Energie, was eine starke mentale und emotionale Erschöpfung auslösen kann. Betroffene fühlen sich oft ausgebrannt und überfordert.
  2. Verlust der Authentizität: Das ständige Verbergen der eigenen Persönlichkeit kann zu einem Gefühl der Entfremdung von sich selbst führen. Betroffene haben das Gefühl, nicht sie selbst sein zu dürfen. Darunter leidet das Selbstwertgefühl.
  3. Gesundheitliche Auswirkungen: Langfristiges Masking kann zu chronischem Stress und damit verbundenen gesundheitlichen Problemen führen, wie Angststörungen und Depressionen.

Entfessle deine Kräfte!

Wir sind, wer wir sind: Ob neurotypisch oder neurodivergent, wir alle haben Stärken und Schwächen, die je nach Situation unterschiedlich zum Tragen kommen. Neurodivergente Menschen leiden aber besonders stark unter dem Gefühl, dass ihr authentisches Verhalten nicht angebracht ist oder sie damit nicht akzeptiert werden. Wer seine vermeintlichen Schwächen aber hinter einer schützenden Maske verbirgt, der hält damit auch seine Stärken zurück. Dabei haben viele neurodivergente Menschen wahre Superkräfte, die nicht nur sie selbst, sondern auch ihr Umfeld weiterbringen. Ein sicherer Rahmen und eine offene, verständnisvolle Gemeinschaft ermöglichen vor allem Menschen im Autismus- oder ADHS-Spektrum, ihre Potenziale auszuschöpfen und sich nicht hinter einstudierten Verhaltensweisen zu verstecken. Allein die Energie, die frei wird, wenn sie nicht für das ständige Masking verbraucht wird, ermöglicht einen wahren Produktivitäts-Boost – und in jedem Fall mehr Echtheit im gemeinsamen Tun.

Zur Podcast-Folge mit Valentin Gambino (aka Mademoiselle Giselle)
Zur Podcast-Folge mit Lisa Pointner