Das Neuroverse

Warum kann man mit Lego Programmieren lernen? Hier findest du Artikel rund um unsere Arbeit und das Leben, Theorie und Anekdoten – kurz: Vielfalt, wie sie nur im neurodivergenten Spektrum vorkommt.

Dem Bystander-Effekt entkommen

Handeln statt Zuschauen

Warst du schon einmal der erste Passant, der zu einem Unfall zurechtgekommen ist? Eine Situation, die sich keiner wünscht. „Was, wenn ich etwas falsch mache? Was, wenn ich mehr tue, als ich darf?“ Solche Ängste hemmen uns, verhindern sogar oft, dass in Notfällen geholfen wird. Die Wissenschaft nennt das den „Bystander-Effekt“ – auf deutsch ganz einfach: Zuschauer-Effekt. Obwohl wir sehen, dass unsere Hilfe dringend gebraucht ist, tun wir nichts.

Warum wir zu oft nur zuschauen

Die Gründe dafür sind vielfältig, aber allesamt menschlich. Vor allem zwei Ängste hemmen uns: 

  • Angst, etwas falsch zu machen –  und sich dafür verantworten zu müssen. 
  • Angst, sich zu blamieren, falls die Situation gar nicht so kritisch ist, wie gedacht.

Der Effekt verstärkt sich, je mehr Menschen eine Situation beobachten. Dann sinkt die Eigenverantwortung – wir sind ein Stück weit im kollektiven Nichtstun gefangen. Alle diese Verhaltensweisen sind vielfach wissenschaftlich erforscht.

Zuschauen: Auch ohne Drama wenig hilfreich

In Notfällen kann das Leben anderer Menschen von unserer Fähigkeit abhängen, vom Zuschauen ins Handeln zu kommen. Doch unser Bestreben, unangenehme Erlebnisse zu vermeiden, blockiert uns dennoch. Das ist in solch dramatischen Situationen lebensgefährlich, zurecht sogar strafbar – und beschämend. 

Zum Glück sind dramatische Notfälle in unserem Alltag selten. Doch Gelegenheiten, Probleme zu ignorieren, gibt es am laufenden Band. Auch unter gewöhnlichen Umständen tun viele lieber nichts, anstatt etwas falsch zu machen. Wer kennt das nicht aus dem eigenen Unternehmen: Nichtstun, Wegschauen und mangelnde Eigenverantwortung hemmen Weiterentwicklung, verhindern Lösungen, verursachen häufig sogar Fehler.

Was hilft? Fokus aufs Ergebnis

Um die Blockaden zu lösen, die uns am Handeln hindern, braucht es einerseits eine Kultur, die Zivilcourage und Eigenverantwortung feiert. Eine gute Fehlerkultur im Unternehmen schafft ein Klima, in dem es eher gelingt, Probleme anzusprechen. Andererseits müssen wir an uns selbst arbeiten. Eine klare Ergebnisorientierung macht es leichter, auf unangenehme Themen hinzuweisen. Manche Menschen bringen die Fähigkeit, den Fokus auf Ergebnisse zu legen, von Anfang an mit – und sind daher in Unternehmen besonders wertvoll, wenn kritisches Einbringen gefragt ist.

„Wenn Sie so weitermachen, bringen Sie ihn um“

Kennst du die Serie „The Good Doctor“? Sie bildet genau diese Fähigkeit ab. Schon in der ersten Folge, zeigt der autistische Arzt Schaun Murphy, was ihn auszeichnet: Er greift ein, ohne sprichwörtliche Rücksicht auf Verluste, und rettet einem Kind das Leben. Er hat keine Scheu, die Bemühungen derer, die bereits versuchen, das bewusstlose Kind wiederzubeleben, offen zu kritisieren. „Wenn Sie hier so weitermachen, bringen Sie ihn um!“, greift er harsch in die Situation ein. Es spielt für ihn keine Rolle, dass dieses Verhalten die anderen brüskiert. Was für ihn zählt, ist das Ergebnis. Und das stimmt in diesem Fall: Shaun Murphy kann das Kind retten. 

Anstrengend, aber wertvoll

Die Sequenz aus „The Good Doctor“ zeigt ein für Autist:innen typisches Verhalten: Das Ergebnis steht für sie über dem Erlebnis. Daher tun sich Menschen im Autismus-Spektrum nicht schwer, Dinge anzusprechen – auch, wenn sie unangenehm sind. Im beruflichen Alltag ist dieser Zugang erfrischend und ungeahnt wertvoll: Wer bedingungslos Probleme anspricht, setzt den ersten Schritt für Verbesserung. Aber – Hand aufs Herz – natürlich sind sie auch anstrengend: Die Kolleg:innen, die stets die Finger in die Wunde legen; die ungeachtet der sozialen Konventionen auf Probleme hinweisen; die jemanden unbeabsichtigt bloßstellen, weil sie IMMER darauf hinweisen, wenn etwas aus ihrer Sicht nicht gut läuft. Stimmen die Rahmenbedingen, lässt sich damit aber gut umgehen. Dann profitieren alle. Denn Ergebnisorientierung und Handlungsfähigkeit, die auch in kritischen Situationen ungebremst sind, können zu verblüffenden Lösungen führen.

Die gute Nachricht: Sie sind schon da!

Genau dieses kritische Denken ist das, was deinem Unternehmen fehlt? Du wünscht dir MitarbeiterInnen, die die Stärken ihrer Neurodivergenz einbringen? Hier kommt die gute Nachricht: sie sind bereits in deinem Unternehmen! Denn 15% aller Menschen sind neurodivergent. Das bedeutet nichts anderes, als dass ihre Gehirne anders funktionieren, als es den gesellschaftlichen Erwartungen entspricht. Personen, die im Autismus-Spektrum sind, ADHS, Legasthenie oder Dyspraxie haben oder hochbegabt bzw. hochsensibel sind, werden als neurodivergent bezeichnet. Es liegt an uns als Führungskräften, jene Menschen zu erkennen und zu stärken. Denn nur dann können sie ihre großartigen Talente ausleben – und damit den kleinen Unterschied ausmachen. Denn wir alle wissen heute: Vielfalt ist der Schlüssel zu Resilienz und damit auch langfristigem Erfolg.

Bystander-Effect? Zuschauen war gestern!

Wenn unsere Ängste, soziale Konventionen oder innere Konflikte uns im Handeln blockieren, hat unser Nichtstun mitunter drastische Folgen. Ob in Notfällen oder im beruflichen Alltag: Der Zuschauer-Effekt lässt sich überwinden! Menschen im neurodivergenten Spektrum tun sich damit oft leichter – sie fokussieren sich bedingungslos auf gute Ergebnisse. In guten Rahmenbedingungen tragen sie dazu bei, eine Kultur der Eigenverantwortung und Zivilcourage zu etablieren. Denn Handeln ist immer besser als Zuschauen. Deshalb: Entdecke die verborgenen Talente deiner neurodivergenten Mitarbeiter:innen (und ich schwöre dir, davon hast du welche!) und setze sie für den gemeinsamen Erfolg richtig ein.
Dann heißt es: Bye-bye, Bystander-Effect!