„Abgeschlossene einschlägige Ausbildung, drei Jahre Berufserfahrung“: Diese Anforderung findet sich so – oder ähnlich – immer noch in vielen Stellenausschreibungen. Ich würde sogar behaupten: In den meisten. Denn obwohl Unternehmen heute wissen, dass sie damit viele der händeringend gesuchten potenziellen Mitarbeiter:innen ausschließen, fällt es schwer, ohne formale Standards auszukommen. Dabei wartet großes Potenzial darauf, gehoben zu werden: Das all jener, die sich anstatt formaler Bildung und Ausbildung ihr Wissen selbst angeeignet haben. Doch wie integriert man Autodidakten in das eigene Unternehmen? Was kannst du tun, um ihnen bessere Chancen zu bieten?
Was steckt hinter dem Begriff „Autodidakt“?
Autodidakten sind Menschen, die sich Fähigkeiten und Wissen selbstständig und durch eigene Anstrengung aneignen. Sie verzichten auf den Unterricht durch LehrerInnen und die Angebote von Bildungseinrichtungen und vertiefen sich stattdessen selbst in ihr gewähltes Fachgebiet. Autodidakten gibt es quer durch alle Wissensgebiete und Branchen: Künstler:innen, Techniker:innen oder Naturwissenschaftler:innen: Viele von ihnen haben ihr Wissen und Können eigenständig entwickelt. Unter den vielen Autodidakten gibt es jede Menge besondere Talente, deren Erfolgsgeschichten andere inspirieren: Vom bekannten historischen Beispiel Leonardo DaVinci bis hin zu den erfolgreichen Gründern Steve Jobs (Apple) oder Jack Ma (Alibaba) zeigen viele Vorbilder, dass es keinen formalen Abschluss braucht, um erfolgreich zu sein.
Was autodidaktische MitarbeiterInnen einbringen
Es ist also vielversprechend, auf Autodidakten zu setzen. Denn Diversität hat langfristig immer Vorteile für Resilienz und Innovationskraft von Unternehmen. Doch es ist gut zu wissen, welche Vor- und Nachteile die unterschiedlichen Voraussetzungen der Mitarbeiter:innen haben. Entscheidet sich dein Unternehmen, bewusst Menschen ohne formale Abschlüsse einzustellen, solltest du auf folgende Effekte vorbereitet sein:
Vorteile autodidaktischer Mitarbeiter:innen:
- Innovation und Kreativität: Autodidakten sind oft kreative Problemlöser, die unkonventionelle Ansätze und innovative Ideen in ein Unternehmen einbringen.
- Selbstmotivation und Eigenverantwortung: Durch ihre eigenständige Ausbildung haben sie bewiesen, dass sie in der Lage sind, sich selbst zu motivieren und eigenverantwortlich zu arbeiten.
- Breites Wissen: Autodidakten verfügen oft über ein breites und tiefes Wissen, da sie sich intensiv mit ihren Interessengebieten auseinandergesetzt haben.
Nachteile autodidaktischer Mitarbeiter:innen:
- Fehlende formale Qualifikationen: Die Überprüfung von Kenntnissen und Fähigkeiten erfordert neue, individuelle Wege, da keine Zeugnisse und Abschlüsse von Bildungseinrichtungen diese belegen.
- Fehlende Netzwerke: Manchen Autodidakten fehlen das Netzwerk und die Branchenkenntnis, die durch formale Bildungseinrichtungen im Laufe der Ausbildung aufgebaut werden.
- Integration und Anpassung: Manche Autodidakten haben ihren Weg gewählt, weil sie Schwierigkeiten haben, innerhalb von Strukturen und Systemen zu arbeiten. Dann ist es wichtig, passende Rahmenbedingungen zu schaffen und die Integration in die bestehenden Teams zu begleiten.
Neurodivergent & autodidaktisch: Eine häufige Verbindung
Viele Menschen mit Neurodivergenz scheitern an den starren Vorgaben unseres Bildungssystems, wo ihre Potenziale oft übersehen und zu wenig gefördert werden. Was dann passiert? Sie „scheitern“: Brechen Schule oder Ausbildung ab, nehmen viele Anläufe, die erfolglos bleiben. Doch ihre besonderen Fähigkeiten – Neugier, Fokus, Ausdauer, Konzentrationsfähigkeit und viele mehr – machen sie zu idealen Kandidat:innen für Wissensaneignung im Selbststudium. In einem passenden Umfeld können sich Neurodivergente unglaublich in ihre Fachgebiete vertiefen. Einfach tun, was der eigene Kopf möchte: Dabei passieren großartige Entwicklungen und manches unvermutete Genie kommt zum Vorschein. Dennoch stehen die vielversprechenden Autodidakten dann schon vor der nächsten Hürde: Dem Schritt in das System „Arbeitswelt“.
Öffne neue Türen!
An dieser Stelle sind die Unternehmer:innen gefragt, sich auf unbekanntes Terrain zu wagen. Denn wenn wir unsere Fachkräfte immer hinter denselben Türen suchen, wird dahinter bald keiner mehr auf uns warten. Finden wir also die neuen, unbekannten Türen und trauen wir uns, sie zu öffnen! Natürlich sollten wir dann auf die eine oder andere Neuerung vorbereitet sein. Wenn wir unsere Türen für Menschen ohne formale Abschlüsse in unserer Branche öffnen wollen, können einige Werkzeuge hilfreich sein:
- Flexibilisierung der Recruiting-Prozesse: Überdenke starre Einstellungskriterien und setze auf Fähigkeiten und Erfahrungen statt auf formale Abschlüsse. Praktische Tests und Probearbeiten können eine gute Alternative zu traditionellen Bewerbungsgesprächen sein.
- Weiterbildungsprogramme: Verstärke das Angebot an Weiterbildungsprogrammen und Schulungen, um Autodidakten die Möglichkeit zu geben, im Bedarfsfall formale Qualifikationen zu erwerben.
- Offene Unternehmenskultur: Eine Unternehmenskultur, die Vielfalt und unkonventionelle Ansätze feiert, hebt das volle Potenzial von Autodidakten.
- Mentoring und Networking: Mentoring-Programme und Networking-Möglichkeiten helfen Autodidakten, Kontakte zu knüpfen und sich in der Branche zu etablieren.
Fazit: Fähigkeit vor Zeugnis!
Spätestens seitdem der Fachkräftemangel uns täglich fordert, unser Personalmanagement zu überdenken, ist vielen klar: Das Hängen an formalen Kriterien im Einstellungsprozess schränkt unser Suchfeld für neue Mitarbeiter:innen mehr ein, als wir uns leisten können. Wer sich traut, Fähigkeiten vor Zeugnisse zu stellen und jenen eine Chance zu geben, die mit Eigenantrieb und Wissensvorsprung punkten, hat im Kampf um die besten Köpfe langfristig die Nase vorn. Sicher braucht es dazu neue Mechanismen, um Qualifikationen zu überprüfen und eine offene Kultur, in der Vielfalt und Innovation Platz haben. Dann können auch neurodivergente Menschen, die besonders oft einen Weg außerhalb des traditionellen Bildungssystems wählen, ihre Potenziale für den gemeinsamen Erfolg entfalten. Denn ihre Stärke liegt im Tun. Wer ihnen eine Chance gibt, den erwarten großartige Aha-Erlebnisse.